Antje Kenntner
Sonntag Quasimodogeniti 19. April 2020
Liebe Brüder und Schwestern!
Als Kanzelgruß sage ich Ihnen heute den alten Ostergruß aus der russisch-orthodoxen Liturgie:
„Der Herr ist auferstanden; er ist wahrhaftig auferstanden!“
Das haben wir letztes Wochenende gefeiert – wenn auch diesmal so ganz anders: die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.
Und jetzt frage ich Sie: Können Sie sich das vorstellen. Und: können Sie das so ohne Weiteres glauben?
Der Vater meiner Schulfreundin pflegte, wenn ihm etwas sehr dubios vorkam, zu sagen: „Wenn das man alles so richtig ist!“
Würden wir das nicht auch manchmal zur Auferstehung sagen wollen?
Da wird Zweifel deutlich.
Auch im heutigen Evangelium haben wir von Zweifel gehört:
Die Jünger berichten freudig davon, dass Jesus ihnen als Auferstandener erschienen ist. Und Thomas – der „ungläubige Thomas“ wie er oft heißt – reagiert auch mit: „Wenn das man alles so richtig ist!“
Sein Zweifel ist so groß, dass er ein Zeichen einfordert. Und er bekommt es schlussendlich.
Aber was ist mit uns – 2000 Jahre später? Was geschieht denn, wenn uns mal wieder der Gedanke plagt: „Wenn das man alles so richtig ist!“
Unser heutiger Predigttext wendet sich an das Volk Israel, das nun schon Jahre, ja Jahrzehnte in der babylonischen Gefangenschaft ausharren muss.
Sie sind über „Wenn das man alles so richtig ist!“ längst hinaus. Sie zweifeln nicht nur – sie sind kurz vor dem Ver-Zweifeln. Hat ihr Gott sie verlassen? Gilt die Erwählung nicht mehr?
Die Babylonier glauben, dass die Sterne Götter sind und beten sie an.
Haben die sich nicht tatsächlich als stärker erwiesen?
Israel sieht so gar keine Zukunftsperspektive mehr.
In diese düstere Stimmung spricht unser heutiger Predigttext zu ihnen.
Er steht im zweiten Jesajabuch – Deuterojesaja – das beginnt mit „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht der Herr.“ (Jes.40,1)
Ich lese aus Kapitel 40 die Verse 26 bis 31.
Jesaja 40, 26-31 Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Da sind wir gleich mitten drin:
Der Prophet fordert das verzweifelte Israel auf, sich die Sterne genau anzuschauen, die die Babylonier für Götter halten. Und er erinnert an den ersten Schöpfungsbericht, in dem Gott genau diese Sterne erschafft.
Er ist Herr über sie – so sehr, dass er sie alle „mit Namen ruft“.
Das, was die Babylonier da als machtvolle Götter anbeten, ist von dem einzig wahren Gott, dem Gott Israels, erschaffen und untersteht ganz seiner Macht!
Und dann geht Jesaja auf die Klage Israels ein, dass sich nach der langen Zeit in der Fremde von seinem Gott verlassen, ja vergessen fühlt:
Gott kann keiner begreifen – „sein Verstand ist unausforschlich“ – und darum können sie nicht behaupten, dass er sie vergessen hat.
Nein, sagt der Prophet: es werden auch wieder andere Zeiten kommen, was er ihnen hiermit verkündigt:
Kraft und Stärke wird den Niedergeschlagenen zuwachsen, neue Kräfte, die sie durchhalten lassen bis – ja – bis wann denn?
Jesaja verspricht dem Volk Israel, das an den Wassern zu Babylon sitzt und weint, Erlösung.
In Sicht ist die aber noch nicht.
Und doch ist es ein starkes Trostwort. Denn Jesaja weist sich als von Gott gesandter Prophet aus – ihr Gott hat sie also nicht vergessen! – und mit der Erinnerung daran, dass dieser, ihr Gott der Schöpfer des ganzen Universums ist und damit auch der Sterne, den vermeintlichen Göttern der Babylonier, und mit der Zusage, dass dieser Schöpfergott nicht „müde noch matt“ wird, also seine Schöpfung nicht aus den Händen lässt, gibt der Prophet Israel das Vertrauen in ihren Gott zurück; das Vertrauen darauf, dass sie immer noch sein erwähltes Volk sind, und dass alles letztlich ein gutes Ende nehmen wird.
Israel in Babylon bekommt starke Worte des Trostes in Zeiten des Zweifels; Thomas im nachösterlichen Jerusalem bekommt das eingeforderte Zeichen gegen seinen Zweifel.
Und was ist mit uns? Mit unserem „Wenn das man alles so richtig ist!“? Gerade jetzt, in diesen so schweren Zeiten?
Das Zeichen, das Thomas bekommen hat, ist für uns ja nicht mehr möglich. Reicht uns die Zusage Deuterojesajas?
Wenn wir in unserem Leben in Krisen geraten, dann gewinnt der Zweifel in uns ganz schnell die Oberhand.
Und wir sind ja mitten drin in einer großen Krise: Corona hält uns weltweit in einer Art babylonischer Gefangenschaft. Die vielen Einschränkungen und die damit verbundene Panik, die immer wieder aufsteigt, machen uns schwach und hilflos: wir haben Angst um die Gesundheit – unsere und die lieber Menschen; Angst vor den wirtschaftlichen Folgen, die es für uns alle haben wird. Wir fürchten den Zusammenbruch unserer Systeme und mühsam errungenen Ordnungen in der Welt. Und wir sind unglaublich machtlos dagegen!
So eine Pandemie haben wir noch nie erlebt! Die großen Polio-Epidemien der 50ger und 60ger Jahre haben wir fast schon vergessen. Wir haben geglaubt, Seuchen mit unserer Wissenschaft und ärztlichen Kunst im Griff zu haben, obwohl uns die jährlichen Grippetoten eines Besseren belehren sollten. Nun zieht uns das weltweite Virus den Boden unter den Füßen weg. Wir können nur hilf- und machtlos zuschauen, wie die Seuche ihren Lauf nimmt. Unsere verzweifelten Notfallmaßnahmen verhindern sie nicht.
Wie kann Gott das zulassen??!
Früher – gerade auch in Israel – haben Menschen Seuchen und auch Kriege als Strafe Gottes begriffen. Wir sprechen vielleicht noch von „Heimsuchung“ – aber was ist das anderes?
Doch auch das ist schwierig.
Ich, für meinen Teil, mag mir Gott nicht als einen großen Erbsenzähler vorstellen, der mit Ärmelschonern dasitzt und Strichlisten über Plus und Minus führt.
Wäre das so, hätte er in Christus nicht in die Welt kommen müssen und am Kreuz verrecken, um für uns schließlich den Tod zu besiegen.
Wenn Gott die Welt „so geliebt“ hat, „dass er seinen eingeborenen Sohn gab“, dann ist er kein himmlischer Buchhalter!
Die Welt ist kein Paradies! Nicht zuletzt, weil wir Menschen, wenn es uns gut geht, Gott immer wieder an den Rand drängen, seine Schöpfung mit Füßen treten und uns gegenseitig das Leben zur Hölle machen.
Und dennoch ist diese schwierige Welt Gottes Geschenk an uns:
Auf ihr dürfen wir leben. Aber weil es nun einmal so ist, wie es ist, ist es oft genug auch ein Kampf.
Jesus hebt das nicht auf. Seine große Erlösungstat macht die bestehende Welt nicht zum Paradies: es bleiben Verbrechen, Kriege, Krankheit und Seuchen wie Corona, und am Ende unseres Lebens steht nach wie vor der Tod.
Aber das genau ist ja die Osterbotschaft: das Ende der Welt ist nicht das Ende von Gottes Weg mit uns, und der Tod wird nicht das letzte Wort behalten!
Dem englischen Dichter Oscar Wild wird der Satz zugeschrieben: „Am Ende wird alles gut, und wenn es nicht gut ist, so ist es noch nicht das Ende.“
Ja, aber unser Ziel und Ende liegt in Gottes Ewigkeit, in der Christus durch seine Auferstehung für uns den Platz bereitet hat.
Die Frage ist: Wie groß ist unser Vertrauen darauf, auch ohne das Zeichen, das Thomas bekommen hat?
Hören wir auf, uns immer nur in den schlechten Zeiten an Gott zu erinnern, indem wir ihm die Schuld dafür geben.
Wie oft sind wir aus schlimmen Situationen wieder herausgekommen – „Gott sei Dank!“ Auch mit Corona wird das so sein! Ganz sicher!
Haben wir ihn auch dafür als Urheber angesehen und ihm wirklich dafür gedankt?
Jeden Morgen geht die Sonne auf – wie wunderbar! Jedes Jahr beginnt im Frühling Saat und Ernte wieder.
Gott gibt, was wir zum Leben brauchen.
Gott ist nicht nur verantwortlich für die schlechten Erfahrungen – er ist in all den Selbstverständlichkeiten des Alltags und in all dem Schönen, das uns begegnet, auch in allem Trost, den wir finden und in aller Bewahrung, so wie wir es der Beter des 116.Psalms betet:
Psalm 116 Auf Gott den Schöpfer und Erhalter zu vertrauen, der uns in Jesus Christus seine grenzenlose Liebe gezeigt hat, und dass er uns niemals loslassen wird – trotz aller Anfechtung und allem Zweifel und trotz Corona – darauf kommt es an.
Und das mahnt dieser erste nachösterliche Sonntag an: „Quasimodogeniti“ – wie die neugeborenen Kinder.
Neugeborene – so klein und völlig hilflos – haben keine andere Möglichkeit als sich voll und ganz auf ihre Eltern zu verlassen. Sie können noch nicht überlegen, ob sie das wollen oder nicht. Ihre Existenz ist reines, großes Urvertrauen.
Nun sollen wir – um Gottes Willen! – nicht unseren Verstand abschaffen, schließlich ist auch er ein Gottesgeschenk. Aber manchmal kommt er uns doch sehr in die Quere – wie bei Thomas.
Wenn wir es jedoch schaffen, die Augen offen zu halten für Gottes gute Gaben und in schwierigen Situationen unseren Verstand mit seinem „Wenn das man alles so richtig ist!“ hintan zu stellen, und wenn wir es schaffen, uns statt dessen voller Vertrauen auf den Vater Jesu Christi zu verlassen, dann werden wir ‘rauskommen aus dem Tief, aus der depressiven Verstimmung. Denn dann gilt uns, was Christus zu Thomas sagt:
„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ (Joh.20,29b)
Amen.
Und der Friede unseres Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der wird Eure Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus, unserem auferstandenen Bruder und Herrn. Amen.