Sein wie die Träumenden?!
„Wenn Gott die Gefangenen Zions erlösen wird, werden wir sein wie die
Träumenden.“ So vertraut der 126. Psalm. Ihr werdet sein wie die Träumenden! Erlösung, Befreiung aus Gefangenschaft, sein wie die Träumenden! Alte Worte dringen an mein Ohr, und ich fange an zu träumen. Träume den Traum einer Welt, in der Gottes Liebe zum Zug kommt. Male mir in bunten Farben aus, dass alles heil ist und gut. Dass alles stimmt. Dass einfach alles passt.
„Wir werden sein wie die Träumenden.“ November haben wir. Totenmonat. Allerheiligen, Allerseelen, Volkstrauertag, Totensonntag, Ewigkeitssonntag. Wir denken an Menschen, die gestorben sind. Von denen wir Abschied nahmen. Erinnern uns, wie wir auf dem Friedhof standen. Dass wir so oft geweint haben seitdem. Manche waren Abschiede nach langer schwerer Krankheit und manche so plötzlich und völlig unerwartet.
„Sein wie die Träumenden.“ Wir nahmen Abschied von Hochbetagten. Von Menschen, die – nach unserm Ermessen – noch ganz viel Leben vor sich hatten. Von Sternenkindern, deren Augen nie das Licht der Welt erblickten. So verschieden die Lebensgeschichten unserer Toten. Und so unterschiedlich unsere Geschichten. Unsere Geschichten der Trauer und Traurigkeit. Unsere Geschichten der Dankbarkeit. Unsere Geschichten der Ohnmacht und Wut. Unsere Geschichten eben, so wie wir sind.
„Wir werden sein wie die Träumenden.“ Dass die Tränen am Anfang gerade immer dann kommen, wenn ich sie am wenigsten gebrauchen kann, sagte mir eine Frau. Darauf könne sie gut und gern verzichten. Aber auch: Dass sich manchmal fast so etwas wie Erleichterung einstellt, wenn ein Mensch endlich gehen darf, erzählte mir der Sohn des schwerkranken Vaters. Eine Trauernde schrieb einmal:
Ich komme langsam wieder auf die Spur, / doch nichts ist mehr, wie es war. / Alles hat sich verändert, / seitdem du gegangen bist. / Ich kann das Leben wieder genießen, / für Stunden und Tage, fast wie früher. / Und dann, von irgendwoher / ein Wort, ein Lied, ein Duft, / in dem du bist. / Ich stürze ab, falle ins Loch, / so, als wärest du gestern gestorben.
„Sein wie die Träumenden.“ In diesem November 2020 gibt es so manches, was in der Rückschau schwer auf uns lastet. Denken wir an das Leid der Menschen, die allein an einem Grab standen, weil Angehörige nicht kommen konnten. An die Verzweiflung so mancher Töchter und Söhne, weil sie nicht zu ihrer schwerkranken Mutter oder ihrem sterbenden Vater durften. Menschen sind gestorben und konnten nicht mehr ihre Liebsten sehen. Trauernde tragen schwer daran, dass sie nicht Abschied nehmen konnten. Dies Leid und diese Not sind auch jetzt da, im November, wenn wir an unsere Toten denken.
„Wir werden sein wie die Träumenden.“ Im November zünden wir Kerzen an, Lichter der Erinnerung. Zugleich Lichter der Hoffnung darauf, dass etwas bleibt: Dass die Liebe bleibt. Dass wir in Mitgefühl, Liebe und Sehnsucht verbunden bleiben. Dann sind unsere Gefühle und Gedanken gar nicht so weit entfernt von diesem hier: „Wenn Gott die Gefangenen Zions erlösen wird, werden wir sein wie die Träumenden. / Dann wird unser Mund voll Lachens / und unsre Zunge voll Rühmens sein. / Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.“
Mit Tränen säen – davon können wohl alle Menschen ein Lied singen. Sich gefangen fühlen, in den Erinnerungen, in den Konventionen, in der Trauer. Und die alten Worte aus Psalm 126 klingen zusammen mit den Worten Jesu aus den Seligpreisungen: „Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.“ Am Ende werden die mit Freuden ernten, die jetzt trauern, die jetzt Leid tragen.
„Sein wie die Träumenden.“ Immer wieder Mut zum Leben empfangen. Und gewiss sein: nichts von dem geht verloren, was wir in Liebe schenkten oder empfingen. Dann ist das alles mehr als ein Traum. Vielleicht so wie dieser Traum, den Dorothee Sölle einmal erdichtete:
„Du hast mich geträumt Gott,
wie ich den aufrechten Gang übe
und niederknien lerne.
Schöner als ich jetzt bin,
glücklicher als ich mich traue,
freier als bei uns erlaubt.
Hör nicht auf mich zu träumen, Gott.
Ich will nicht aufhören mich zu erinnern,
dass ich dein Baum bin,
gepflanzt an den Wasserbächen des Lebens.“
Hiltrud Warntjen
Pfarrerin in Vechta hiltrud.warntjen@kh-vec.de