Auch das ist Barmherzigkeit
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ (Lk 6,36) Das ist Jesu Wunsch an uns für das Jahr 2021, dessen zweiter Monat nun schon angebrochen ist. Natürlich werden manche sagen: aber Gott ist doch nicht immer barmherzig. In der Bibel wirkt viel zu oft ein strafender und richtender Gott. Richtig beobachtet. Beides ist da. Gott vertrieb seine Menschen aus dem Paradies. Und blieb doch weiter bei ihnen. Begleitete sie. Sorgte für sie. Machte ihnen Kleidung aus Fellen. Hielt weiter seine schützende Hand über sie. Auch das ist Barmherzigkeit.
Den Brudermord Kains ließ Gott nicht ungestraft. Und hinterließ doch an Kain ein Zeichen der Vergebung. Barmherzig sein meint: die Verfehlungen des anderen sehen. Sie drauf ansprechen, vielleicht auch mal ermahnen. Gar nicht so selten wird der andere selbst die Folgen spüren. Barmherzig sein heißt dann: den anderen nicht aufgeben. Ihr meine Liebe nicht entziehen, sondern vergeben. Auch das ist Barmherzigkeit.
Wie unbarmherzig sind wir oft! Schon mit kleinen Fehlern unserer Mitmenschen. Da hat einer etwas zum wiederholten Male vergessen. Oder die Kassiererin im Supermarkt bewegt die Waren in Super-Zeitlupe über den Kassenscanner. Kleinigkeiten. Aber wie unbarmherzig können wir darüber herziehen. Mit Worten, Blicken, Gesten oder Gedanken. Wie oft geht es uns wie John Wesley, dem Gründer der Methodistenkirche. Der zu der Einsicht kam: „Ich habe oft bereut, zu streng geurteilt zu haben, aber nur selten, barmherzig gewesen zu sein.“ Auch das ist Barmherzigkeit.
Barmherzig sein ist nichts, was ich einfach so aus dem Hut zaubere. Barmherzig sein, barmherzig leben, das ist eine Lebensaufgabe. Immer wieder aufs Neue zu lernen. Dies gar nicht mehr so neue Jahr 2021 wird uns viel Barmherzigkeit abverlangen. In behutsamen, zarten Begegnungen mit anderen. Mit denen, die nach einer schweren Erkrankung lange brauchen, um im Alltag zu bestehen. Mit Einsamen und Verzweifelten. Ihnen etwas von meiner Zeit schenken. Einfach mal ihre Hand halten und zuhören. Wirklich zuhören. Auch das ist Barmherzigkeit.
All das ist Barmherzigkeit. All das ist barmherzig sein. All das werden wir sehr brauchen im Miteinander in diesen unruhigen Zeiten. Ganz so, wie in dieser kleinen Geschichte, von Susanne Niemeyer: „Als ich in der Früh im Bett lag und nicht mehr schlafen konnte und die Uhr einsam tickte, da stellte ich mir einen Engel vor. Er kam direkt zur Tür herein und setzte sich auf meine Bettkante. „Mach, das alles wieder gut ist.“ sagte ich. Der Engel schüttelte bedauernd den Kopf: „Das kann ich nicht. Ich bin kein Zauberer.“ Ich war enttäuscht: „Was kannst du dann?“ Der Engel antwortete: „Ich kann bei dir sein, bis es wieder gut ist.“
Das ist für mich Barmherzigkeit. Dasein, Dableiben, Mit-Aushalten. Bis es wieder gut ist. Wenigstens erträglich. Engel der Barmherzigkeit sein in diesen Zeiten, das klingt nicht unmöglich. Das ist machbar. Am Bett der schwerkranken Freundin sitzen, einfach nur da sein. Am Telefon den Nöten des Freundes zuhören, egal wie lange es dauert. Wertvolle Zeit, die ich schenke. Das Kind liebevoll in die Arme nehmen und trösten, wenn etwas schief gegangen ist. An der Supermarktkasse geduldig warten, wenn die Kassiererin nicht so fix bei ihrer Arbeit ist.
Das ist für mich Barmherzigkeit. Dasein, Dableiben, Mit-Aushalten. Bis es wieder gut ist. Eigentlich ganz einfach. Und doch oft unendlich schwer im Alltag. Wenn wir auf Jesus schauen, gelingt es. Der mit Freundlichkeit und Annahme hilft. Ohne Vorurteile. Den Körper heilt und die Seele. Hoffen wir also auf viele Gelegenheiten zur Barmherzigkeit, zum Barmherzigsein. Dass wir so selbst zu Beschenkten werden, zu Engeln auf Erden – mit großem Ohr und weitem Herz. Auch das ist Barmherzigkeit.
Hiltrud Warntjen
Pfarrerin in Vechta hiltrud.warntjen@kh-vec.de