Sei barmherzig mit Dir
Sei barmherzig mit Dir – so wie auch unsere Mutter im Himmel barmherzig ist!
Diese Woche besuchte ich meine Mutter. Wie eigentlich jede Woche, wenn ich es irgendwie einrichten kann. Plane es schon mit ein in meine Tage, in meine Zeit, meine Lebenszeit. Gespräche werden nicht einfacher. Sie merkt es selbst und bringt es auch zur Sprache. Traurig. Müde. Und gleichzeitig doch wieder sehr wach. Sei barmherzig mit Dir – so wie auch unsere Mutter im Himmel barmherzig ist! (frei nach Lukas 6,36)
Irgendwann seufzt sie tief. „Ich weiß auch nicht. Alles fühlt sich irgendwie anders an. Erinnert mich an alte Gefühle. Von früher. Die ich lange nicht mehr hatte.“ Sie schaut mich unsicher an. Vorsichtig taste ich mich ran, frage: „Aus dem Krieg?“ „Ja“, sagt sie einfach. „Aus dem Krieg. Da wurde auch so alles so von oben bestimmt. Man musste gehorchen. Man war ausgeliefert. Wusste nicht, was der kommende Tag bringen würde. Das war schrecklich.“ Ich wundere mich. Dass sie das so vergleichen kann. Wo sie doch sonst gar nicht so viele Erinnerungen an früher hat. Das muss tief sitzen bei ihr.
Sei barmherzig mit Dir – so wie auch unsere Mutter im Himmel barmherzig ist! Wenn ich mich so umschaue in der Welt, im Januar 2021, im elften Monat mit so viel ungewohnter Fremdbestimmung, entdecke ich viele Menschen mit blanken Nerven. Deren Seelenhaut dünn geworden ist. Mit müden Augen, spannungsloser Körpersprache. Deren Geduld zum Zerreißen gespannt ist. Nahezu aufgebraucht, am Ende. Wann ist das bloß endlich vorbei? Und dann noch diese dunklen Tage des Januar. So viel grauer Himmel, immer wieder trüb und regnerisch.
Erinnere dich: es ist Januar. Es ist doch erst Januar. Und erinnere dich: bis hierher hast du es geschafft. Sei barmherzig mit Dir – so wie auch unsere Mutter im Himmel barmherzig ist! Es ist doch erst Januar. Halte Dich offen für Neues. Tue Dir Gutes. Öffne Dich andern Menschen. Bleib in Kontakt. Telefoniere. Schreibe mal wieder Briefe. Oder mach Besuche. Dass wir es nicht verlernen, das Gespräch, das Zuhören, das Antworten, das Erzählen, den Austausch. Dass Nähe wächst. Dass Freundschaft hält.
Erinnere dich: es ist Januar. Es ist doch erst Januar. Und erinnere dich: bis hierher hast du es geschafft. Sei barmherzig mit Dir – so wie auch unsere Mutter im Himmel barmherzig ist! Es ist doch erst Januar. Versuche zu grüßen. Wer immer Dir auch begegnet. Verschenke Lächeln. Gönne Dir und den andern dein Lachen, wenn Du was zu lachen ist. So schenkst Du den Ängstlichen und Traurigen neuen Mut. Sei barmherzig mit Dir – so wie auch unsere Mutter im Himmel barmherzig ist! Darum: denk nicht an die ungeputzten Fenster. Denk nicht an all die unerledigten Dinge, die im Grunde gar nicht so wichtig sind. Denk nicht an die nicht rechtzeitig geschriebenen emails, an die unbeantwortete Weihnachtspost, an die immer länger werdende Liste der Dinge, die Du erledigen willst. Oder musst. Oder doch eben nur vielleicht erledigen kannst. Wenn die Zeit da ist.
Sei barmherzig mit Dir – so wie auch unsere Mutter im Himmel barmherzig ist! Darum: denk an deine Ideale. Von achtsamer Morgenroutine. Denk an deine Träume von verbessertem Teamwork. Vom flacherem Bauch vielleicht auch. Vom leichteren Leben. Vom Verstehen-Wollen der Unverstandenen. Von der Hilfe für die, die Hilfe brauchen. Denke dran. Doch lass Dich nicht von ihnen beherrschen. Lebe so, dass Du mit Deinen Idealen und Träumen befreundet bleibst. Dass sie nicht in Vergessenheit geraten. Nicht bei Dir und auch nicht bei den anderen!
Sei barmherzig mit Dir – so wie auch unsere Mutter im Himmel barmherzig ist! Darum noch ein barmherzige Aufgabe: vergiss!. Ja, vergiss es, noch in diesem Monat, jetzt aber, nun wirklich, während dieser schwierigen Zeiten eine bessere, nettere, geduldigere, erfolgreichere, hübschere, gebildetere, sanftmütigere Frau (oder Mann) zu werden. Und falls es sich zufällig doch ereignet, so nimm es barmherzig an.
Denk dran: Es ist Januar und jeden Tag ist es nun zwei Minuten länger hell als am Tag zuvor – völlig ohne dass du irgendwas dazu beiträgst. Es ist erst Januar. Und eine mögliche Aufgabe heißt: Sei barmherzig mit Dir – so wie auch unsere Mutter im Himmel barmherzig ist. Und wenn Du’s nicht bist, ist sie es immer noch.
Hiltrud Warntjen
Pfarrerin in Vechta hiltrud.warntjen@kh-vec.de