All das ist Barmherzigkeit
Unsere Jahreslosung sagt: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ In meinen Alltagswortschatz kommt die Barmherzigkeit nicht vor. Das Wort spielt eigentlich kaum eine Rolle in meinem Sprechen und Denken. Irgendwie altertümlich ist das – Barmherzigkeit. Vielleicht auch irgendwie zu groß. Zu stark. Ob ich da jemals reinpasse? In die Barmherzigkeit? Fühlt sich an wie ein viel zu großer Mantel. Barmherzigkeit. Das drückt etwas aus. Beschreibt ein Gefühl, für das ich normalerweise andere Worte verwende: uneigennützig – mitleidig – neidlos – aufopferungsvoll – hilfsbereit – freundschaftlich – vorsichtig – sanft – behutsam – – hingebungsvoll – einfühlsam – tolerant – herzlich – mitfühlend – sensibel – weitherzig. Ja, all das ist Barmherzigkeit. Und noch viel mehr. Lese ich meine Wörterliste nochmals, merke ich schnell, wie groß die Barmherzigkeit ist. Was sie alles umschließt. Und einschließt: so viele Worte passen da hinein. Und es sind ja nicht nur Worte. Barmherzigkeit, das sind auch – und gerade – Taten. Handlungen. Etwas was ich tue. Oder eben grad nicht tue. Was ich lasse. Weil ich barmherzig bin. Barmherzigkeit ist, ein schiefes Bäumchen stehen lassen. Einer zuhören, die – wie immer – nicht zum Ende kommt. Nicht zuende findet. Einem etwas zu geben, ohne zu fragen, ob er es verdient. Eine Fliege rausfliegen lassen, trotz schwer gestörten Nachtschlafs. Sich für Gerechtigkeit einsetzen. Nicht nachtreten, wenn man schon gewonnen hat. Etwas über das Erwartete hinaus geben. Ein Schiff ins Mittelmeer schicken, und so Menschenleben retten. All das ist Barmherzigkeit. Die Not eines anderen erkennen und sie uneigennützig lindern. Barmherzig ist, wenn Gnade vor Recht ergeht. Wenn man gibt, wo man lieber nehmen würde. Oder insgeheim denkt: ist doch selber schuld an der eigenen Armut. Auf das Beurteilen und Verurteilen anderer verzichten. Vergeben. Andere schützen. Mich selbst einschränken, auch wenn ich nicht genau weiß, wie. Jemanden mit Gottes Augen ansehen. All das ist Barmherzigkeit. Ohne gelebte Barmherzigkeit wäre es unerträglich. Nicht nur in letzter Zeit. Nicht nur heute. Unter diesen schmerzhaften Lebensumständen, die uns alle so bedrücken. Verschieden zwar. Mehr oder weniger. An denen viele fast verzweifeln. Wann ist das endlich vorbei? Es wäre nicht auszuhalten ohne gelebte Barmherzigkeit. Barmherzigkeit zeigen, barmherzig sein, barmherzig leben. Das war notwendig. Ist nicht selbstverständlich, nie. Und bleibt notwendig. Barmherzig sein, um die Not zu wenden. Wir brauchen weiter viel Barmherzigkeit. Noch viel, viel mehr davon. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Um lebensförderndes Handeln geht es. Um eine Vision des Lebens. So handeln, so leben, so sein, dass es das Leben fördert. Das Miteinander. Nähe schenken, wo sie gebraucht wird. All das ist Barmherzigkeit. Barmherziges Handeln ist sozusagen Gottes Herzschlag auf Erden. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Der Satz macht es warm in mir. Weil die Barmherzigkeit ein Bauchgefühl ist. Das das Herz bewegt, den ganzen Körper erfasst, alles weit und freundlich werden lässt. Das uns Gottes Herzschlag spüren lässt. All das ist Barmherzigkeit. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Diesen Satz, diesen Vers aus Lukas 6,36 nehme ich gern mit auf meinen Weg durch diese schweren Zeiten. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ – Das erinnert mich daran: Gottes Barmherzigkeit ist Ausdruck seiner Liebe. So wie ich das schiefe Bäumchen stehen lasse. So wie ich anderen vergebe. So wie wenn ich die andern mit Gottes Augen ansehe. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ All das ist Barmherzigkeit.
Hiltrud Warntjen
Pfarrerin in Vechta hiltrud.warntjen@kh-vec.de